"Einer Tradition treu zu sein, heißt der Flamme treu zu sein und nicht der Asche" - Jean Jaurès, französischer sozialistischer Politiker.
Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) die erste Arbeiterpartei Deutschlands gegründet. Er ist eine der Vorläuferorganisationen der SPD und seine Gründung verstehen wir als Geburtsstunde der Sozialdemokratie in unserem Land. Was aber passierte in den Kiezen um Falkplatz und Arnimplatz, als sich in Leipzig die ersten Genossen organisierten?
Nun, vermutlich zunächst nicht sehr viel. Viel finden konnte man damals in unseren Gebieten grundsätzlich noch nicht. Auf einer
Karte von 1899 kann man erkennen, dass sich Bebauung lediglich in dem Block um die Schönhauser Allee- Cantianstraße- Milastraße, sowie entlang der Schönhauser Allee findet. Die Gegend um den Arnimplatz war auf der Karte nicht erfasst und auch nicht bebaut. 1863 war es in den Kiezen um Arnimplatz und Falkplatz also vor allem Grün – noch nicht im politischen Sinnen, sondern weil dieser Teil Berlins damals vor den Toren der Stadt lag und sehr ländlich war. Wo heute Gründerzeitbauten dicht an dicht stehen, prägten Felder die Gegend um die Schönhauser Allee. Stimmungsvoll wird das in einem frühen Buch über den Schönhauser Bezirk von einem älteren Einwohner, Julius Sack, geschildert:
„Wenn die Felder, die sich links und rechts von der Schönhauser Allee ausbreiteten, abgeerntet waren und der Wind über die Stoppeln fuhr, waren unsere Jungs eifrig dabei, ihren Drachen herzustellen und dann auf dem Windmühlenberg oder dem Exerzierplatz [heute Jahn-Sportpark] steigen zu lassen.“ zitiert nach (Behrendt and Malbranc 1928), 24-25.
Trotzdem, oder besser gesagt gerade deswegen befinden sich zwei Geburtsstätten der Berliner SPD in bzw. in unmittelbarer Nähe unserer Kieze: Die „Einsame Pappel“ in der Topsstraße und die Gastätte „Prater“ in der Kastanienallee. Doch der Reihe nach.

Am 26. März 1848, also bereits 15 Jahre vor der Gründung des ADAV, versammelten sich während der Revolution von 1848 mehr als zehntausend Menschen an der „Einsamen Pappel“, heute in der Topsstraße, darunter vor allem Arbeiter und Handwerker. Sie forderten unter anderem die Bildung eines Arbeitsministeriums, die Verringerung des stehenden Heeres, Volkserziehung auf Kosten des Staates, eine wohlfeile Regierung und einen neuen Landtag. Die „Einsame Papel“ war zu diesem Zeitpunkt ein Exerzierplatz der preußischen Armee und befindet sich dort, wo heute der Jahn-Sport-Park ist.
Beim „offiziellen“ Gründungsdatum des Allgemeinen Deutsche Arbeitervereins waren jedoch weder unsere Kieze noch irgendein anderer aus Berlin vertreten. Die ersten industriellen Zentren Deutschlands lagen in Sachsen, sowie im Süden und Norden, wo sich die Hochburgen des ADAV befanden. In Berlin hatte zu diesem Zeitpunkt auch unter den Handwerkern und Arbeitern die Fortschrittliche Partei noch eine vorherrschende Stellung.

Im September 1868 wurde der ADAV in Leipzig polizeilich aufgelöst, weil er durch die Gründung von Zweigvereinen in Konflikt mit den strengen Verbindungsgesetzen gekommen war. Die Wiedergründung erfolgte am 10. Oktober 1868 in Berlin. Und die Stätte dieser erneuten Gründung war der Prater an der (heutigen) Kastanienallee. Damals lag das Lokal außerhalb der Stadtmauer vor dem Schönhauser Tor (gelegen an der heutigen Kreuzung Prenzlauer Allee/Torstraße) und mehr oder weniger auf der grünen Wiese (lat. „pratum“).
Sowohl die „Einsame Pappel“ also auch der Prater sind Geburtsorte der Berliner Sozialdemokratie, aber nicht weil im Prenzlauer Berg so viele Arbeiter wohnten, sondern weil diese Orte wegen ihrer Randlage wenig bebaut und so als Versammlungsorte geeignet waren.
Kein Wunder, dass die Anfänge im Bezirk wie auch in ganz Berlin äußerst bescheiden waren. Im VI. Wahlkreis (Prenzlauer Berg, Wedding, Moabit, Friedrichshain) wurden 1867 für den ADAV-Kandidaten Berthold Feistel gerademal 33 Stimmen abgegeben. 1873 hatte der ADAV in ganz Berlin 450 Mitglieder.
Hinzu kam ab 1869 eine Konkurrenz von zwei Arbeiterparteien, die sich am Anfang auch mit Sprengung oder Übernahme von Veranstaltungen bekämpften: Am 7. August 1869 wurde in Eisenach die SDAP gegründet und ein Ableger fand sich bald in Berlin. Die Gründer und prägenden Figuren waren August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Letzterer wurde 1887 das erste Mal für den Wahlkreis Berlin VI in den Reichstag gewählt, dem er bis zu seinem Tod 1900 angehörte. Dem VI. Wahlkreis gehörte neben Friedrichshain, Wedding und Moabit auch der Prenzlauer Berg an.
Auf Druck der polizeilichen Verfolgung rückten beide Arbeiterparteien SDAP und ADAV zusammen und fusionierten am 22.-27. Mai 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). In Berlin folgte die Vereinigung der beiden Wahlkreisorganisationen kurz darauf: am 15. Juli 1875 wurde der Sozialistische Arbeiterwahlverein Berlin als vereinte Organisation der beiden Parteien gegründet. Lokale Organisationen, vergleichbar mit Kreisvereinen, folgten. Für das Gebiet vor dem Schönhauser Tor, das die Kieze um Falkplatz, Arnimplatz und weitere Teile des heutigen Prenzlauer Berges umfasste, gründete sich 1883 der „Verein der Schönhauser Vorstadt“.
Der erste Nachweis auf die SPD vor Ort fällt in diese sehr frühe Zeit unserer Kieze. Auf einem Werbeblatt von etwa 1902/1903 zur Mitgliedergewinnung wird als eine Kontaktadresse die Schönhauser Allee 136 angegeben. Wollte man ein Geburtsdatum der SPD Falkplatz-Arnimplatz angeben, so wäre es wahrscheinlich dieses. Es ist die erste offizielle Erwähnung der SPD in unseren Kiezen:
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Von Markus Roick