Kommentar: Die Türkei vor der Tür der EU - ferner Fortschritt und lokaler Widerstand

Veröffentlicht am 30.11.2010 in Äußeres

Panorama Istanbul - Copyright Ina Kaczmarek

Die Erweiterung der Europäischen Union, eine der historisch gesehen erfolgreichsten Zusammenschlusses von Nationen, war und ist auch eine Integration verschiedener Kulturen und Interessen, und diese ist nie einfach. Der größte derzeitige Kandidat aber eröffnet eine neue Dimension: Der Beitritt eines muslimischen Landes, der Türkei, zur im mehrheitlich christlich geprägten Europäischen Union hat ein enormes geopolitisches und wirtschaftliches Potential, ist aber geradezu zwangsläufig Zielscheibe verschiedener Emotionen. Während es bereits erhebliche Fortschritte gerade in der Türkei selbst gibt, sind die Debatten oft von Stimmungen beherrscht, die wenig mit Rationalität und Objektivität zu tun haben, wie etwa bzgl. einer vermeintlichen europäische Identität, zu der die Türkei nicht passe. Beeinflusst werden sie auch von den innen- und wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten der Mitgliedsstaaten selbst.

Meilensteine eines langen Wegs

Bereits seit den Sechzigern laufen Überlegungen und Gespräche zur Aufnahme der Türkei in die damalige EWG, heute die Europäische Union. Früh wurde klar, dass die Türkei zahlreiche Reformen würde umsetzen müssen, die sich mit Menschenrechten, und politischer, religiöser und kultureller Liberalität befassen. Und die Türkei machte und macht Ernst damit, insbesondere unter ihrem gegenwärtigen Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan. Dessen seit 2002 amtierende Regierung setzte ein Paket von Gesetzen durch, das u. a. die Abschaffung der Todesstrafe, ein Folterverbot, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie Liberalisierung des Gebrauchs des Kurdischen. Seit dem 3.10.2005 laufen die offiziellen Beitrittsverhandlungen; Voraussetzungen für den Beitritt sind jedoch die Fortsetzung der angefangenen Reformen. Zwar werden der Türkei signifikante Fortschritte attestiert, aber kritisiert werden zum Beispiel die Lage der Menschenrechte sowie der Minderheiten.

Diese sind just die Kristallisationspunkte des Widerstands hauptsächlich konservativer Regierungen in der EU, da sie Vorurteile und Ressentiments von Bevölkerungsteilen „bestätigen“; leider werden sie darum für innenpolitisches zweckentfremdet. Am 6. Mai 2007 wurde Nicolas Sarkozy zum Staatspräsident Frankreichs gewählt. Er ging auf Stimmenfang mit dem Versprechen, den Beitrittsprozess aufzuhalten und stattdessen über eine privilegierte Zusammenarbeit zu verhandeln. Seine Regierung verhinderte im Juni 2007 die Eröffnung des dritten von 35 sogenannten „Kapitels“ „Wirtschafts- und Währungspolitik“ der Beitrittsverhandlungen. Im August 2007 revidierte Sarkozy jedoch seine Position und stellte unter Bedingungen eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche in Aussicht. Auch Angela Merkel stieß wiederholt in dasselbe Horn mit einer Forderung nach einer privilegierten Partnerschaft, aus ähnlichen parteipolitischen Erwägungen heraus. Diese Signale können weder für den Prozess selbst, noch für die Perzeption der EU in den Augen der Türken hilfreich sein. Dennoch gingen in der Türkei die Reformen weiter.

Während des Besuches des amtierenden EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso in der Türkei im April 2008 wurden Gesetze verabschiedet, um die Grundrechte von religiösen Minderheiten zu stärken. So wurde klargestellt, dass eine Abkehr vom Islam hin zu einer anderen Religion ausdrücklich erlaubt sei. Ferner beschloss das türkische Parlament die Rückgabe von vor Jahrzehnten beschlagnahmten Immobilien an die jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften. Im Januar 2009 wurde Egemen Bağış, der u.a. Dank eines Studienaufenthaltes in New York hervorragend Englisch spricht, zum ersten Europaminister der Türkei, und leitete hinfort auf türkischer Seite die Beitrittsverhandlungen. Er ist als Reformer sowie entschiedener EU-Anhänger bekannt.

Nach den Regionalwahlen 2009 hatte Erdoğan’s Partei, die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) wieder freie(re) Bahn für Reformen, die während des Wahlkampfes etwas schwieriger voranzutreiben gewesen waren. Am 4. Februar 2010 hob die Regierung das sogenannte Emasya-Protokoll auf, durch das das Militär bis dato die Möglichkeit hatte, in einzelnen Provinzen ohne Autorisierung der gewählten Lokalparlamente oder –regierungschefs die Macht zu übernehmen. Die Bevölkerung, deren Altersdurchschnitt deutlich unter dem der bisherigen EU liegt, unterstützt diesen Kurs. In einem Referendum vom 12.9.2010 votierten 58% für eine Reihe von Verfassungsänderungen, die zum Beispiel die Nominierung von Richtern betreffen. Angesichts der Schwierigkeiten gegen historisch gewachsene Eliten sowie ein selbständiges Militär anzukommen, kann Erdogan jeden innenpolitischen Erfolg gut brauchen – ebenso wie jeden außenpolitischen, der in einer spürbaren Anerkennung seitens der EU bestehen könnte.

Hindernisse

Bei allem politischen Willen der Regierung in Ankara – die bereits verwirklichten Reformen sind räumlich fern von uns, und daher medial wenig präsent; und die Umsetzung durch die lokalen Verwaltungen in ländlichen Gebieten läuft nach wie vor zäh; so sind Aspekte der Behandlung dortiger Frauen für uns unakzeptabel und noch immer präsent. Zweierlei Maß bei emotional aufgeladenen Fragen wie der wechselseitigen Religionsfreiheit (Erlaubnisse für Moscheen in deutschen Städten, noch nicht aber für Kirchenbauten in türkischen), verbunden mit real vorhandenen Integrationsprobleme der erwähnten rd. 2 Millionen türkischer MigrantInnen allein in Deutschland sind weitere Hemmschwellen, die innenpolitisch bremsend auf die Beitrittsbemühungen der Mitgliedstaaten wirken. Sie machen es den konservativen Parteien und auch uns Sozialdemokraten schwer, mit voller Kraft auf einen Beitritt zuzusteuern.

Am rechten Rand finden Populisten hier ein dankbares Thema. Obschon Rechtspopulisten vielfach nationalistisch, mithin gegen Aufgabe nationaler Souveränität agieren, haben sie hiermit ein einigendes Thema, und können sich sogar als Hüter eines allenfalls vage definierten christlichen Abendlandes präsentieren. Die konservativen Parteien schlingern unglücklich zwischen öffentlicher Ablehnung der Konkurrenz am rechten Rand und Annäherung an deren Positionen, um die Wähler zu halten. Teils agieren sie hierfür (siehe oben) sogar gegen einen Beitritt.

Doch es gibt weitere, abstraktere und daher zumindest in unserem Land weniger medial präsente Probleme. Noch immer schwelt der Disput um die geteilte Insel Zypern, die von griechischen und türkischen Zyprioten bewohnt wird. die Republik Zypern beherrscht den Südteil der Insel, beansprucht sie vollständig für sich und ist bereits Mitglied der EU. Doch seit einer Besetzung 1974 durch das türkische Militär, als Reaktion auf einen Putschversuch griechisch-zypriotischer Militärs gegen den damaligen Präsidenten Zyperns, wird der Nordteil von einer von der Türkei gestützten Regierung regiert. Eine UN-Truppe bewacht eine Pufferzone dazwischen. Zypern nutzt seinen Einfluss in der EU um gegen einen Türkei-Beitritt zu agieren. Dies funktioniert leider insofern als die Türkei sich dagegen sperrt, die 1996 eingeführte Zollunion auch auf (Süd-)Zypern auszudehnen, was wiederum die Beitrittsverhandlungen behindert. Eine Lösung des Zypernkonfliktes ist bislang nicht in Sicht. Die Normalisierung der Beziehung zwischen Zypern und der Türkei steht zur Zeit der Fortführung der Beitrittsverhandlungen im Weg.

Ein potentiell sehr integrationsförderliches Projekt ist bislang nicht aus dem Planungsstadium herausgekommen. Bislang gelangt fast das gesamte kaspische Erdgas durch Pipelines der „Gazprom“ nach Europa. Es gibt Pläne für eine „Nabucco“ Pipeline aus der Region durch die Türkei. Ein Zusammenarbeiten bei dem Schlüsselthema Energie könnte viel bewirken, wo möglich auch innenpolitisch in den EU-Mitgliedstaaten.

Potential im Südosten

Die Überlegungen, die für einen Beitritt sprechen, sind von Natur aus etwas abstrakt, selbst wenn man sie auf pauschale, unpräzise Begriffe herunter bricht; eine Pipeline für günstigere Energie durch („aus“) der Türkei ließe sich noch gut als wertvoller Vorteil einer Integration der Türkei „vermarkten“, obschon diese Pipeline kein eigentliches EU-Projekt ist.

Andere bereits erreichte Erfolge, wie bzgl. Zoll und Handel, hat zwar sehr wohl positive Auswirkungen auf die EU-Wirtschaftszone und mithin auf den Lebensstandard dort, allerdings ist dieser Zusammenhang abstrakt, langfristig und daher wenig tauglich für eine knappe Zeitungsüberschrift. Hier ist die Politik gefragt, das öffentlichkeitswirksame Vermitteln solcher Fortschritte zumindest zu versuchen.

Die Möglichkeit der Türkei, eine Brücke zu sein zwischen dem „Westen“ (hier gemeint der EU und den USA) und muslimischen Ländern, ist ebenfalls eher abstrakt, und ein Zustandekommen realer Ergebnisse, etwa in den Verhandlungen mit dem Iran oder im Nahostkonflikt, nicht gewiss; es wäre ferner nachvollziehbar, wenn die Türkei ein Engagement im Sinne des „Westens“ an Fortschritte bei ihrer Akzeptanz in der EU knüpfte. Das Potential eines Gelingens wäre aber enorm; und angesichts der Gefahren besagter Konflikte wäre es fahrlässig, eine solche Chance verstreichen zu lassen.

Dies sehen auch die USA so. Die USA haben sich denn auch bei den Mitgliedern der EU mehrfach für eine Aufnahme der Türkei verwendet, weil auch sie sich davon einen geostrategischen Vorteil erhoffen. Mehrere CSU-Politiker haben sich daraufhin die Einmischung der USA in die EU-Politik gewendet.

Die Vorteile einer Integration der Türkei in die EU überwiegen meiner Ansicht nach bei weitem die Nachteile; Anstrengungen gerade auch innerhalb der Union sind erforderlich, insbesondere ein Vermeiden des Gebrauchs der Thematik als Wahlkampfmittel und der Vermischung der Türkeibeitrittsfrage mit letztlich getrennten Fragestellungen wie bzgl. Kopftücher muslimischer Frauen in Deutschland oder Frankreich. Gerade für die EU liegt eine große Chance in diesem Erweiterungsprojekt; dies aber nicht nur bezüglich Handels- und Zollabkommen und großer Weltpolitik, sondern auch, sich selbst als "Global Player" im 21. Jahrhundert zu beweisen.

Bericht: Christoph von Friedeburg

Zum Weiterlesen:

TIME-Artikel

Erweiterungswebpage der Europäischen Kommission

Bundeszentrale für politische Bildung

 

Homepage SPD Falkplatz-Arnimplatz

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Autor: arrazibre, Datum: 14.01.2011, 08:47 Uhr


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